- Sonstiges
22.01.2024
Sich ins Leben zurückboxen - Ein Artikel von Uta Rohrmann
Winnenden (epd).
Abubakers Augen strahlen. Nicht nur, weil der 17-Jährige
baden-württembergischer Jugendmeister der Kategorie B im Boxen geworden
ist und, wie ihm sein Trainer Oliver Dentz bescheinigt, weitaus erfahrenere Boxer
besiegt hat. Sondern hauptsächlich, weil er seine Lebensfreude wiedergefunden und hier in Deutschland Freunde gewonnen hat - nach all den schweren
Erlebnissen in seinem Heimatland Afghanistan und während der langen,
lebensbedrohlichen Flucht.
Im Herbst 2021 wurde der Teenager, der mit „Hallo“ und „Ja“ gerade mal zwei
deutsche Wörter sprechen konnte, in eine der Jugendhilfe-Wohngruppen der
diakonischen Paulinenpflege in Korb (Rems-Murr-Kreis) aufgenommen. Sein
Zimmer verließ der traumatisierte Afghane nur, wenn er es musste. „Obwohl
ich völlig müde war, habe ich in den ersten Monaten kaum Schlaf gefunden. All
der Stress hat mich eingeholt“, erzählt Abubaker.
Auf der Flucht ohne Eltern und in einer Gruppe mit anderen jungen Leuten,
während der er plötzlich von seinem Bruder getrennt worden sei, hätten
sie sich zuweilen mangels Nahrung auch von Blättern ernährt. Während
der pausenlosen Fußmärsche durch mehrere Länder starb ein junger Mann
an Erschöpfung, mit dem sich Abubaker angefreundet und den er gerade
noch aufzumuntern versucht hatte. „Ich habe in Afghanistan schon viele Tote
gesehen. Aber das war so furchtbar für mich! Ich konnte danach tagelang nicht
sprechen“, erzählt er.
Dass er heute über diese Erfahrungen sprechen kann - und das auf Deutsch - ist keineswegs selbstverständlich. Es hat viel mit der Box-AG zu tun, die
Abubaker seit anderthalb Jahren besucht. Das Angebot im Jugendhilfeverbund
der Paulinenpflege richtet sich an sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche
mit unterschiedlichem Förderungsbedarf.
Im Vordergrund steht daher nicht Leistungsorientierung, sondern der Aufbau
von Beziehungen, um die Persönlichkeitsentwicklung und Integration des
jungen Menschen zu fördern, wie der Leiter und Trainer der Box-AG, Oliver
Dentz, erklärt. „Beim Boxen wird ständig mit dem Gegenüber kommuniziert
- und zwar sowohl nonverbal als auch verbal“, sagt der Trainer mit A-Lizenz
des DBV (Deutscher Boxverband Olympisches Boxen). Wichtig seien die Vor-
und Nachgespräche, bei denen es nicht nur um sportliche Rückmeldung und
Techniken geht, sondern die ganze Person im Blick ist. „Bei Abubaker war es
mir vor allem wichtig, sein Selbstvertrauen aufzubauen“, sagt der erfahrene
Jugend- und Heimerzieher.
Das ist gelungen. Der Boxsport, mit dem er bereits in seiner Heimat erste
Erfahrungen sammeln konnte, macht dem jungen Afghanen Spaß. Viel Training
hat ihn zum Erfolg geführt. „Und ein guter Trainer“, betont Abubaker, für den
„Oli“ mehr ist: ein väterlicher Freund und Mentor, mit dem er über den Sport
hinaus in ständigem Kontakt steht.
So hat Dentz ihn auch darin bestärkt, über das Boxen hinaus Zukunftspläne
zu entwickeln. Der 17-Jährige möchte gerne Industriemechaniker werden und
bereitet sich derzeit auf seinen Hauptschulabschluss samt B1-Zertifikat in
Deutsch als Fremdsprache vor.
Die Jugendwohngemeinschaft Waiblingen, in der Oliver Dentz als Jugend-
und Heimerzieher tätig ist, besucht Abubaker auch deshalb oft, weil dort sein
bester Freund Ahmad lebt - ebenfalls ein junger Afghane. Er selbst wohnt
bereits eigenständig mit seinem Bruder in einer Wohngemeinschaft. Auch über
die Paulinenpflege hinaus hat der 17-Jährige viele Menschen kennengelernt,
die ihn annehmen und weiterbringen, vor allem durch die Trainings in der
Boxschule Charlie in Fellbach, einem Kooperationspartner der Einrichtung.
Eine Einbahnstraße ist die Unterstützung keineswegs. „Es kommt so viel
zurück“, freut sich sein Trainer. „Abubaker assistiert mir auch bei den Trainings,
macht Übungen vor und ist für viele in der Box AG ein Vorbild.“ Sehr fleißig,
leistungsbereit und dabei bescheiden - so erlebt der erfahrene Jugendhelfer
auch die anderen jungen Menschen aus Afghanistan, die er betreut. „Das ist
eine Bereicherung für Deutschland“, so Dentz.
Abubaker hat indes nur eine Duldung und befürchtet, abgeschoben zu werden.
Er hofft, dass sein Asylverfahren gut ausgeht, er bleiben und einfach ein
normales Leben führen kann. (0002/01.01.2024)